"Isch mein Hals noch dicht?"

Rasuren mit kleinen Blessuren.

Alle werden heute wieder über einen Kamm geschert. Schuldt
bediente gerade einen dem Knabenalter entwachsenden
Jüngling, der mit einfachen Hinweisen an den Meister: "A Bi-
schle steh lassa," nicht mehr zufrieden sein wollte. Ein Fasson-
schnitt müsse es jetzt sein. Nachdem Friseur Schuldt mit Duft-
pomade die Haare gezähmt hatte, fragte er scherzhaft den
Heranwachsenden, ob er wisse, wie die Haarfarbe der "Alten Deutschen"
gewesen war? "l wais net, Schuldt", antwortet der Halbwüchsige
und sah ihn gespannt an.
Zwei Falten wurden auf Schuldts Stirn sichtbar, während er todernst
antwortete:" Däbbele, grau."



Später erhebt sich ein Mann mittleren Alters nach einer Rasur aus
dem Friseurstuhl. Dieser Mann hat während
des Rasierens leichte Blessuren abbekommen, und sein Ge-
sicht blutete etwas an verschiedenen, nicht leicht zugängli-
chen Gesichtsflächen. Der Barbier meinte, es sei eben eine
Kunst, die faltenreichen Gesichter von Barthaaren zu befreien.
Manche Tage setzte er sein Rasiermesser an der dar-
gebotenen Wange etwas wackelig an und fuhr an dem Ge-
sicht herunter.
Blutete die Visage etwas mehr, so war Löschpapier und Spei-
chel bei der Hand. Der Frischrasierte nahm zwischendurch in
der Friseurstube Platz und wartete ab, bis das Bluten
nachließ.
Inzwischen saß ein anderer Kunde auf dem noch warmen Stuhl.
Er hatte Glück und kam mit drei Gesichtspflästerchen davon.
Gleich nach dem Rasieren verließ der Mann den Salon. Auf der Haustrep-
pe begegnet ihm ein neuer Kunde, der den Barbierbetrieb auf-
suchen wollte.

Der Mann erschrak, als er in das verpflasterte Gesicht des
Frischrasierten blickte und fragte ihn erschrocken: "Was
isch denn mit dir passiert?" Die Antwort reduzierte sein
Rasurbedürfnis auf ein Minimum: "Des isch noch
garnix. I konn noch bei Tag hom, awer dohinn hockt oiner, der
konn wahrscheins garnemme raus".

Durch dieses blutige Ereignis wurde Schuldts Geschäft über-
haupt nicht negativ beeinflusst. Im Gegenteil! Gelacht hat man
im Dorf darüber, weil man ihm einfach nicht böse sein konnte.
Ob bei einer weiteren Episode, die man sich kurz darauf im Dorf
erzählte, obige Pate stand, wird nicht mehr herauszufinden sein.
Jedenfalls hätte ein Frischrasierter bei Schuldt nach der Rasur
ein Glas Wasser verlangt: "Ob er wohl Durst habe?" war die Frage des Meisters.
"Noi", kam die Antwort zurück, "l will blos amol spüra, ob mei Hals noch
dicht isch."
Konfrontiert mit dieser neuerlichen Gruselgeschichte, erwiderte Schuldt lapidar:
"Däbbele, glabs net."



Der Raseur Schuldt und ein älterer Bauer erfreuen uns mit ei-
ner anderen wahren Historie.
Der Bauer konnte wegen Krankheiten seinen Altenteil
nicht mehr verlassen. Schuldt bekam deshalb den Auttrag,
diesen Mann einmal in der Woche zu besuchen, um ihn zu rasieren.
Das geschah immer sonntagsvormittags.
Die Ehefrau des Bauern hätte es lieber gesehen,
wenn ihr Mann zweimal in der Woche rasiert worden wäre. Die
langen Bartstoppeln mochte sie nicht ausstehen.
Der Bauer verweigerte das Ansinnen seiner Frau mit dem festen Vorsatz,
dem Schuldt nicht zweimal in der Woche sein Gesicht hinzuhalten,
da ja bekannt sei, wie es manchmal zu enden pflegt.

Für die Rasierarbeit wurde Schuldt mit Naturalien belohnt. Die
Tochter konnte dafür einen Liter Milch abholen, der damals 10
Pfennige kostete. Schuldt war in dieser Familie trotzdem ein gern gese-
hener Gast, und es war selbstverständlich, dem Dortbarbier
ein Glas Most anzubieten, das dieser nicht abzulehnen pflegte.