"Die herbstliche Wehmut gehört zum Soll des Jahres"
 

In Berthold Schuldts Ladengeschäft mit Uhren und Schmuck
verlief das Verkaufsgeschäft schleppend. Dagegen ging das Ge-
schäft mit Reparaturen von Zeitmessern  immer gut. Die
Leute besaßen nicht das nötige Geld, um Schmuck zu erste-
hen. Nur selten kaufte jemand brillantenbesetzte, ringförmige
Gebilde. Modeschmuck, die sogenannten Westwall-Ringe
aus biegsamem, nicht rostendem Metall, wurden schneckenför-
mig zusammengefügt an den Finger gesteckt. Sie wur-
den während des zweiten Weltkrieges zu Hunderten verkauft.
Die Ladenschelle bimmelt, und eine Großmutter mit ihrem En-
kelkind betritt grüßend die Arbeitsstätte. Die junge "Grott"
sollte Ohrringe bekommen. Die Auswahl von Uhren und
Schmuck war etwas mager. Schuldt rief nach seiner Ehefrau
Wilhelmine, wörtlich hat er Mina gerufen. Den Schmuckver-
kauf hat er lieber seiner Gattin überlassen. Sie war geschickter
im Umgang mit den Kunden.
Schnell waren die Ohrringe gewählt, und schon hielt Frau Schuldt ein Stück
Kernseife hinter das Ohrläppchen der  jungen Dame.
Und sogleich war auch eine Nadel zur Hand, mit
der Frau Schuldt das Ohrläppchen durchstach. Nach einem
kurzen Zucken baumelten an ihm zwei glitzernde Ohrringe.

Die Kundin war nicht in Eile. Sie fand Zeit für ein Schwätz-
chen mit Frau Schuldt, die einem solchen nicht abgeneigt war.
Sie sprachen von der Veränderung der Jahreszeiten
sowie deren Vorzüge und Nachteile.
Frau Schuldt bezieht auch ihren Mann mit in das Gespräch ein:
"Ja, Berthold, welche Jahreszeit ist dir am liebsten?"
Für sie selber komme lieber der Frühling in
Betracht, wenn alles ergrünt und die Natur vom Winterschlaf
erwacht ist, meinte sie, während Berthold nachdachte und
und den beiden schließlich seine Meinung mitteilte:
Keine andere Jahreszeit als der Herbst erfreue ihn mehr.
Warum? Der Herbst kennt nicht nur Laub, sondern auch
Früchte. Wir sammeln, wir ernten sie und leben von ihnen.
Ein Hintergedanke war da bei Schuldt im Spiel. Welcher?
Ohne Früchte auf den Bäumen und an den Rebstöcken gebe
es nicht die feinen, anregenden Durstlöscher wie Apfelmost
und den köstlichen Wein.

Bleiern hing der Himmel an diesem Novembertag über dem Dorf.
Zwei ältere Männer betraten zu einer Rasur die Frisörstube.
Sie setzten sich, und man merkte, daß sie fröstelten.
In Schuldts Werkstättle wollte der Ofen nicht recht zum Bren-
nen kommen. Die Raumtemperatur war ungemütlich. Die zwei
Männer streckten ihre Hände gegen die Ofenplatte und sahen
Schuldt an.
Der regte sich zunächst nicht, bis er endlich verschmitzt den Ofen anredete:
"Gib mir mal Wärme, dann geb ich dir Holz", was nichts
anderes ausdrücken sollte, als daß sein Holzvorrat zur Neige
gegangen war.
Schuldt lenkte die wartenden Männern ab und erzählte von
seinem Uhrmacherberuf. Die zwei Besucher betrachteten etwas
skeptisch das nicht zu übersehend Durcheinander durch die offen
stehende Werkstatttüre. Berthold Schuldt sah es anders.
Diese "Chaos" war seine Welt, die er liebte - und in der er
sich auskannte.
Gerade vor wenigen Minuten war es ihm mit Hilfe seiner
Zahnrad-Absetzfräse gelungen, die Mechanik einer Taschenuhr
wieder instandzusetzen. Durch as gleichmäßige Ticken bewies sie
unüberhörbar die Kunstfertigkeit des Werkstattbesitzers.

Die beiden Männer Kriegsteilnehmer des Ersten Weltkriegs waren,
kam das Gespräch bald auf diese sie alle prägenden Ereignisse diese
furchtbaren Geschehens.
Schuldt erinnerte an die gefallenen Kameraden und an die
schreienden Verwundeten mit ihren zerfetzten Leibern auf
den Schlachtfeldern. Das alles, sagte Schuldt, hätten sie
Auge in Auge erleben müssen. Er erzählte auch noch, wie die
Menschen im Dorf erschüttert war, als die Gedächtnisgottesdienste für die ge-
fallenen Söhne der Gemeinde abgehalten wurden. Ein
kleines Häuflein älterer Sänger gedachten mit einem ergreifenden Trauerchor
der Gefallenen. Die Vereinsfahne mit dem Trauerflor senkte
sich in der Kirche, und tiefe Trauer hatte die Menschen ergriffen.